Maastricht Pieces, I-II,  1995





Material: Beton, Wasser, Moniereisen, Holz

Maße: je 25 x 125 x 300 cm

In der Perspektive der Werkentwicklung bei Georg Wittwer kann der Charakter der hier eingereichten Arbeit besonders deutlich hervortreten. In seinen frühen Arbeiten löste Wittwer die selbstgestellte Aufgabe, indem er Details pflanzlicher Formen nach funktionalen und ästhetischen Kriterien untersuchte: Hierfür steht eine Folge von Arbeiten, in denen solche Teile von Pflanzen, die dem flüchtigen Blick des "unbewaffneten Auges" für gewöhnlich entgehen, zu oft meterhohen Skulpturen aus dem natürlichen Material Holz "bis zur Kenntlichkeit" vergrößert wurden. Eines der Ziele Wittwers bei diesem Verfahren war eine Herabsenkung der im Alltag erlernten "Wahrnehmungsschwelle" angesichts "mikroskopischer" natürlicher Phänomene, aufgehoben in einer umschreitbaren und betastbaren Form. Die in dieser Verfahrensweise impliziten Ideen - das wissenschaftliche Anschauungsmodell, das vegetabile Ornament, wie es auch in der Architektur verwendet wurde, allgemein: das Artifizielle des bildnerischen Schaffensprozesses - traten bei diesen Arbeiten in ihrem einer technischen Zivilisation zugehörigen Charakter noch nicht in den Vordergrund.In der Werkgruppe "Maastricht Pieces, I-III" verwendet Wittwer ausschließlich "natürliche" Materialien in technisch zugerichteter Form: Die drei parallel angeordneten "Felder" sind aus Beton gegossen, danach mit einem herkömmlichen Handpflug, wie er vor Zeiten noch im Landbau verwendet wurde, in Furchen gepflügt. Alle drei Platten sind mit Moniereisen armiert. Nach dem Austrocknen der Betonmasse zu manövrierbaren Platten wurden sie einzeln auf Industrie-Transportpaletten, sogenannte "Euro-Paletten" gelegt, die jeweils an ihren Schwerpunkten plaziert waren: ganz so, als sollten diese Felder abtransportiert werden. Die in der Mitte erzeugte Balancesituation führte zum Zerbrechen der Betonplatten entlang ihrer Mittelachse - und schließlich zum Abknicken der Langseiten über die Palettenkanten. Es wurde also absichtsvoll eine Situation herbeigeführt, die eine Bewährungsprobe für das hier verwendete Material Beton bedeutet. Die auf allen drei Platten sichtbaren Risse gehen in der Dreierreihung ineinander über und führen wie in einer Versuchsanordnung die Wiederholbarkeit der Erschöpfung des Materials vor.Betrachtet man sie, abgelöst von inhaltlichen Mutmaßungen, als plastische Formation, führen die drei "Maastricht Pieces" eine Schichtung vor Augen, bei der die obere Lage der unteren bereits rein optisch überlegen scheint; zudem wird das labile Gleichgewicht zur Anschauung gebracht, in dem sich die Betonfelder befinden. Dann weisen die drei Felder auf den ersten Blick eine Form der Bearbeitung auf, die im Widerspruch zu dem vorliegenden Material steht, die aber - zu einem bestimmten Zeitpunkt, für eine begrenzte Zeit! - durchaus möglich ist. So spielen die Spuren der Geste des Pflügens auf den ersten Zustand des Betons vor seiner Erstarrung an. Zugleich ist in ihnen jedoch auch die paradoxe Tätigkeit des Pflügens einer "toten Masse" sichtbar gemacht.Jedes der drei Felder verweist auf eine natürliche Ebene (fruchtbare Erde, "Zustand der Ursprünglichkeit"), auf eine Ebene älterer Techniken (Landbau mit dem Pflug, Phase der "1. Natur") und eine Ebene jüngerer Techniken (Beton als Bauwerkstoff, Phase der "2. Natur"). Den äußersten zeitlichen Punkt, abgelöst vom Grund des "Feldes" und hereinragend in die Gegenwart, bildet das ebenfalls in Beton abgegossene Rad einer Schubkarre - die in beiden Bereichen der Anspielung, Landwirtschaft und Bau, Verwendung findet. Die "Euro-Paletten" schließlich markieren eine noch jüngere Phase der Internationalisierung und bürokratischen Formalisierung der Wirtschaft - eine Phase, die sich mit den sogenannten "Maastrichter Beschlüssen" verbinden läßt, die zu einem  entscheidenden Einschnitt in Leben und Arbeitsmöglichkeiten der europäischen Landwirte führten und noch führen werden.Wichtig bei dieser wie bei anderen aktuellen Arbeiten von Georg Wittwer ist die Entwicklung einer Rhetorik des Materials, eine Wendung nach außen ganz ohne gesuchte Äußerlichkeit, die als Resultat der Erfahrung gesehen werden kann, daß die Nachschaffung natürlicher Formen den darzustellenden Zwiespalt zwischen erworbenen und erlernten Naturbegriffen nicht offen genug vor Augen führen konnte. "Rhetorik" bedeutet in diesem Fall die augenfällige und dadurch symbolsetzende Dialektik zweier Materialien, die für Natur und/oder Technik gesetzt werden, aber auch der Gegensatz von zweckfreier Naturform (deren "Zweck" immer nur im Rahmen menschlicher Intepretation liegen kann) und zweckbestimmter Form, Werkzeug.            Clemens Krümmel